Martin hat vor drei Jahren angefangen, sich für Make-up und Drag zu interessieren. Auf Instagram ist er unter seinem Künstlernamen Chloe Waldorf bekannt, ein Name, der aus einer Zeit stammt, in der Martin sehr viel Gossip Girl geschaut hat. Wir treffen uns in einem Restaurant in Berlin Mitte. Er ist in Schwarz gekleidet, trägt T-Shirt, Jeans und Sneakers. Unter seiner Mütze ragen seine langen, braunen Haare hervor. Martin bestellt sich einen alkoholfreien Cocktail und Nachos mit Käsesoße. Ich bestelle mir eine Limo. Wir reden über seine Drag-Künste, warum er auf keinen Fall eine Frau sein möchte und welches Medium er als besonders queer erachtet.
Was machst du gerne in deiner Freizeit?
Ich interessiere mich für Fotografie, Mode und Drag. Ich shoppe gerne online und abends schaue ich mit meinen Freunden Filme.
Wann hast du angefangen, dich extravagant zu schminken? Und wie lange hat es gedauert, bis du mit Drag angefangen hast?
Ich habe ungefähr vor drei Jahren mit Drag angefangen. Mit Drag habe ich auch angefangen, mich mit Make-up zu beschäftigen. Davor habe ich mich nicht geschminkt. Ich bin etwas verrückter ausgegangen, Club Kids 90er, aber nicht als Drag. Ich fing letztendlich mit Drag an, weil ich in Berlin oder auch allgemein in Deutschland niemanden wirklich gut fand. Dann dachte ich mir, ich sollte es am besten selbst ausprobieren, ansonsten kann ich nicht sagen, dass es andere nicht gut machen, wenn ich es selber nicht ausprobiere. Ich wollte es einfach besser machen und so hat alles angefangen.
Und wo hast du gelernt mit Make-up umzugehen und dich so zu schminken?
Try and Error. Ich habe mir es einfach selber beigebracht. Ich hatte niemanden, der es mir gezeigt hat. Vielleicht habe ich mir ein paar YouTube-Tutorials angeschaut, aber das meiste habe ich mir selbst beigebracht. Learning by Doing.
Dein Drag ist sehr chic und elegant, woher kommt das?
Für mich ist das meine Vorstellung von einer perfekten Frau. Nicht von dem Charakter her, erst einmal nur vom Aussehen. Was die Formen und Ausstrahlung angeht. Das kommt meiner Vorstellung – als schwuler Mann – einer perfekten Frau am nächsten.
Aber Drag lebt doch von Übertreibungen.
Ja Drags sind fernab von einer realistischen Frau. Schmink dich, nimm es mal 10 und du hast eine Drag Queen. Mein Drag lebt von Übertreibungen. Es gibt ja auch viele Künstler, die Performance Art machen und gar nicht aussehen wollen wie eine Frau und sich dementsprechend auch nicht schminken oder anziehen. Mein Augenmerk liegt eher in meinen Bildern. Für mich ist Drag eher wie Fine Art, ein Produkt, welches ich am Ende in der Hand halte. Mich interessiert weniger das schminken und mich als Frau zu verkleiden, für mich zählt nur das Bild am Ende.
Wie lange schminkst du dich?
Vier Stunden.
Und das interessiert dich nicht?
Nein tatsächlich nicht. Viele lieben die Performance und den Applaus danach. Die treten gerne auf und genießen das. Ich möchte einfach ein perfektes Bild am Ende des Tages haben. Für mich ist das Bild ein fertiges Produkt, welches ich in erster Linie für mich mache. Ich bin ein sehr visueller Mensch. Alles davor ist für mich nur der Weg dahin. Ich poste meine Bilder auch auf Instagram und die Resonanz und die Job-Angebote machen mir viel mehr Spaß als die Auftritte als Drag.
Du hast über 60.000 Follower, dementsprechend ist die Resonanz ziemlich groß.
Über 66.000 und keinen Einzigen gekauft.
Wenn wir über deinen Instagram-Account reden, fällt auf, dass du nur Bilder als Drag hast und ein einziges Bild von dir als Martin. Warum hast du dich entschieden das Bild von dir zu posten?
Das habe ich gepostet, weil es ein gesponserter Post war. Ich habe mir die Wangen und die Kieferpartie füllen lassen und im Anschluss dieses Bild gepostet. Das Filling verschwindet aber nach einer gewissen Zeit wieder. Mein Problem ist, wenn du dich ständig auf Instagram mit so viel Make-up siehst und deine eigenen Bilder bearbeitest, dann hast du irgendwann ein verzogenes Selbstbild von dir. Und dann veränderst du Kleinigkeiten und irgendwann willst du dann auch so aussehen. Wenn es kein gesponserter Post gewesen wäre, hätte ich niemals ein Bild von mir hochgeladen. Es war auch eher ein Fehler, weil mich jetzt Leute auf dem CSD und Bushwick erkannt haben und mich angesprochen haben. Und es gibt ja auch Leute, die das toll finden. Es gibt ja genug Influencer, die gerne in der Öffentlichkeit stehen, aber ich mag das gar nicht. Es ist mir unangenehm und ich habe das Gefühl, die haben eine bestimmte Erwartungshaltung an mich. Wenn ich als Drag unterwegs bin, ist das völlig ok, dann verstehe ich das auch, wenn sie nach einem Bild fragen. Aber wenn ich als Typ unterwegs bin, ist es mir sehr unangenehm. Mein Instagram Account repräsentiert ja nicht mich, Martin, sondern mich als Drag, als Chloe.
„So eine typische Frage nach einem Doppelleben kommt meistens aus einer heterosexuellen Sicht.“
Du nennst dich als Drag Chloe Waldorf. Wer ist denn Chloe für dich?
Für mich ist Chloe ein Produkt. Mein Wesen verändert sich ja nicht, wenn ich als Drag unterwegs bin. Als Drag angesprochen zu werden, ist mir genauso unangenehm, wie wenn mich Leute als Typ ansprechen. Wenn ich geschminkt bin, die Perücke aufhabe und andere Kleidung trage, gibt es mir eine andere Attitude, ich gehe anders, habe eine andere Haltung. Emotional macht das eher wenig mit mir. Mir gefällt einfach der Look.
Wie verdienst du Geld mit Drag?
Durch Kooperationen mit Make-up Brands, Instagram oder wenn mich Leute für Events buchen. Das ist die Sache mit Instagram, wenn du viele Follower hast, wirst du gebucht, ohne dass die Kunden wissen, ob du gut oder scheiße auftrittst.
Welche Drag Queen inspiriert dich? Hast du Vorbilder, die dich in deinem Stil inspiriert haben?
Ich würde sagen, dass ich noch nie in meinem Leben so ein richtiger Fan von jemandem war. Egal ob in der Drag oder Musik Szene. Ich interessiere mich für Mode, Kunst und Fotografie, da gibt es keine einzelne Person, die mich inspiriert. Für mich sind meine Interessen eher wie ein Katalog, indem ich blättern kann und mich inspirieren lasse. Ich finde eine einzige Person nicht inspirierend genug, ich schaue mir lieber verschiedene Ressourcen an, aus denen ich etwas entwickeln kann.
In einem Interview mit dir habe ich gelesen, dass du den Begriff Doppelleben nicht magst. Was stört dich daran?
Leute, die nichts mit Drag zu tun haben denken: Tagsüber bin ich Martin und arbeite als Stilist, aber abends bin ich Chloe Waldorf und mache Berlins Straßen unsicher – nein, so ist es nicht. So eine typische Frage nach einem Doppelleben kommt meistens aus einer heterosexuellen Sicht, die sich nichts anderes darunter vorstellen können. Doppelleben klingt immer so, als müsste man es verheimlichen, als würde man nicht gerne darüber reden.
Wie reagieren andere auf Chloe, beispielsweise beim Daten? Redest du direkt darüber, dass du gerne Drag machst?
Du weißt halt nie, ob die Leute verstehen, warum du das machst, was du machst. Jeder macht Drag aus einem unterschiedlichen Grund. Wenn ich jemanden in der Bar kennenlerne, oder mit jemanden schreibe und die Person nicht direkt nach mir in Instagram sucht, denken die meisten direkt ich stehe besoffen mit Perücke auf einer Bühne in irgendeinem Club in Berlin. Aber das ist so weit entfernt von dem, was ich mache. Oft zeige ich dann was für Drag ich mache und ich habe immer das Gefühl, erklären zu müssen, dass es für mich nicht darum geht, in dem Moment eine Frau zu sein, sondern dieses Bild, dieses Produkt am Ende in den Händen zu halten. Das ist es, was mich glücklich macht. Viele homosexuelle Männer können mit Drag nicht viel anfangen und sind am Ende eher verwirrt.
In vielen Medien werden Personen aus der LGBTQ-Szene oft auf ihre Sexualität reduziert, ohne etwas über den Charakter der Person zu erfahren. Findest du die mediale Darstellung missglückt?
Ja, komplett! Die Sexualität wird direkt in den Vordergrund gestellt, obwohl es so unwichtig ist. Mich interessiert nicht, ob jemand transsexuell, oder ob Jochen Schropp schwul ist. Wir haben 2018. Eigentlich ist die eigene Sexualität etwas sehr Persönliches. Ich glaube, diese typischen Schlagzeilen wie: „Sie ist im falschen Körper geboren“ oder „sie wurde als Mädchen geboren und ist jetzt ein Mann“, braucht es, um den Menschen dieses Thema näher zu bringen. Viele beschäftigen sich nicht mit dem Thema und müssen sich auch nicht zwangsläufig damit beshcäftigen, weil sie keine homosexuellen oder transsexuellen Freunde in ihrem Umfeld haben und im täglichen Leben nicht damit konfrontiert werden.
Wie kann man das der breiten Masse besser beibringen?
Das ist sehr schwierig. Ich finde es sehr wichtig, dass Menschen sich öffentlich outen und sagen, dass sie homosexuell oder transsexuell sind, damit andere Leute, die nicht so viel Mut aufbringen, sehen, dass sie nicht alleine sind. In meiner kleinen Bubble ist es jedoch total unwichtig, sollte es eigentlich auch sein. Da das aber noch nicht der Fall ist, ist es, glaube ich, sehr wichtig darüber zu reden.
„Ich muss mir keine Sorgen machen, ob das was ich trage zu schwul aussieht – was auch immer „schwul“ sein soll.“
Ist es in Berlin leichter?
Ich komme eigentlich aus Stuttgart und ich denke schon, dass es dort immer noch härter ist als in Berlin. Ich persönlich finde es in Berlin viel einfacher. Ich wurde nicht oft beleidigt. Das passiert nur sehr selten. Einmal wurde ich als Drag angespuckt, aber dann kam der Wind, der hat mich gerettet. Ein anderes mal wurde ich fast geschlagen und im Vorbeigehen hört man leise „Schwuchtel“. Mir schreiben viele Jugendliche, die auf dem Dorf leben und sich mit ihrer Sexualität dort alleine fühlen und auf ihre Sexualität reduziert werden, wie schwer sie es haben. In ihrer Umgebung ist ihre Sexualität immer ein Thema, die Leute dort interessiert es einfach. Vielleicht aber auch weil sie es nicht kennen oder weil sie nur diesen Stereotyp von einem homosexuellen Mann kennen. Und wenn man dann vielleicht den Stereotyp auch noch erfüllt, erkennen die Leute nicht, dass es nichts damit zu tun hat, dass er schwul ist, sondern dass das sein Charakter ist, seine Person. In meiner Welt gibt es nicht so Ausdrücke wie: „der sieht schwul aus“ oder „bei dem hätte ich nie gedacht, dass er schwul ist“. Woran will man erkenn ob einer homosexuell oder trans ist? Du siehst keinem Menschen die Sexualität an. Das ist das Problem, das viele Leute haben.
Vielleicht weil gerade in den Medien die Sexualität in Stereotype dargestellt wird?
Ja, natürlich treffen Stereotype immer auf Leute zu. Ich denke, gerade heterosexuelle Männer haben Angst vor extrovertierten homosexuellen Männern, weil diese Männer gerade so angstlos sind und nicht darauf achten, wie sie in der Öffentlichkeit auftreten. Wenn ich mit einem Rock auf die Straße gehen möchte, dann würde ich das auch machen. Viele Leute würden gerne genauso angstlos sein und hätten dieses Gefühl auch gerne und können oder wollen es aber nicht sein. Ich hab das Gefühl, auch wenn man immer so viel Shitstorm als Schwuler abbekommt, ist man trotzdem freier. Es gibt bestimmt auch heterosexuelle Männer, die sich gerne als Drag verkleiden möchten, es aber niemals machen werden, weil sie diesen gesellschaftlichen Druck haben. Ich glaube, Männer haben noch einen größeren Druck als Frauen. Es gibt ja auch genügend Homosexuelle, die nach heterosexuellen Vorstellungen leben. Als Homosexueller kannst du machen, was du willst. Ich muss mir keine Sorgen machen, ob das was ich trage, zu schwul aussieht – was auch immer „schwul“ sein soll. Ich kann tragen und machen, was ich will, weil ich diesen gesellschaftlichen Druck nicht mehr habe. Man muss nichts mehr unterdrücken.
Findest du es herrscht eine mediale Überpräsenz zu dem Thema Geschlecht und Sexualität?
Nein, das empfinde ich nicht so. Es kommt jedoch oft vor, dass wichtige Themen falsch weitergegeben werden. Der Grundgedanke ist meistens gut, aber was dann daraus entsteht, ist etwas anderes. Ich finde nicht, dass zu viel darüber geredet wird. Wenigstens passiert etwas. Besser es wird darüber geredet, als totgeschwiegen – und dann auch lieber zu viel. Somit machen sich Menschen wenigstens Gedanken über diese Themen. Besser, als wenn sie gar nicht damit konfrontiert werden.
Ich denke die Überpräsenz dieses Thema hat etwas mit der eigenen sozialen Bubble zutun. Ich denke viele Menschen bekommen dennoch zu wenig über das Thema mit.
Genau! Das Problem ist, dass sich die Personen in der Community ohnehin schon mit dem Thema beschäftigen und darüber reden, deswegen bringt es nichts dort etwas zu sagen, man müsste sich auf den Alex stellen und es dort verbreiten, wo neue Menschen erreicht werden. In der Community wiederholt es sich und es passiert nichts Neues.
„Es gibt so viele andere Sachen, die mich mehr definieren als mein Gender.“
Welches Mainstream-Medium ist für dich queer? Gibt es überhaupt eins?
Für mich ist Netflix unglaublich queer. Dort gibt es viele homosexuelle Rollen in Filmen und Serien. Dort wird es aber oft gar nicht thematisiert, sondern ist einfach gegeben. Was toll ist, weil sie es dadurch mehr in den Mainstream pushen.
Reden wir zum Schluss noch mal über deine Fotos als Drag. Auf deinem Männerfoto hast du einen langen Bart, rasierst du den immer ab, wenn du Drag machst?
Ja, ich muss mir immer meinen Bart abrasieren und einmal musste ich mir für einen Job sogar die Beine rasieren, aber das war zu viel des Guten. Ich würde auf jeden Fall keine Frau sein wollen.
Du willst keine Frau sein, aber als Drag auf Zeit machst du es gerne?
Ich benutze ja nur weibliche Attribute, im überspitzen Sinne. Es gibt auch viele, die Gender Fuck Drag machen und sich nicht als Frau verkleiden, sondern irgendwas dazwischen. Bei meinem Drag habe ich nicht das Gefühl, dass ich Gender in Frage stelle, obwohl wahrscheinlich schon, weil Leute mich anschauen und denken: „eigentlich ist er ein Mann und sieht aus wie eine Frau“. Das ist für Leute oft verwirrend. Dann muss man darüber nachdenken, was Mann und Frau wirklich unterscheidet, im Grunde ist es doch nur das Make-up, außer du machst das Geschlecht an den primären Geschlechtsorganen fest. Ich finde es krass, dass das Geschlecht Menschen so definiert. Ich stelle mich ja auch nicht bei anderen Leuten vor mit: „Hallo, ich bin Martin der Mann“. Es gibt so viele andere Sachen die mich mehr definieren, als mein Gender.
Da hast du vollkommen Recht. Vielen Dank für das Gespräch Martin.
Die szenischen Bilder des Gesprächs findet Ihr hier.
Mehr Bilder von Martin findet Ihr auf seinem Instagram Account.
Fotomaterial von Martin.